Der Canyon

Dichter Nebel umhüllte eine abseits stehende Figur, die Scimmelstute nickte der Gestalt zu. Es war heiß, viel zu heiß, und Hallu hatte ewig weder etwas gefressne noc getrunken. Doch wie immer spielte das im Moment keine Rolle. Die Stute schritt auf den tiefen Abgrund zu, ehe sie stehen blieb. Für eine Sekunde hätte man denken können, die Stute wolle hinunterspringen, hätte es sich jedoch anders überlegt. Halluzination blickte sich um, die Gestalt war verschwunden, doch das war irh nur zu vertraut.

Die Stute wusste, dass sie jemand anstarrte, doch reagierte nicht. Ihre Illusionen - sie waren so real, so lebendig.. Und so wunderschön..
Die Stute schloss die Augen, und wie immer fiel sie dabei in eine Art trance. Würde nun jemand kommen und zu ihr sagen, sie solle die klippe hinunterspringen, so läge es nahe, dass sie dies auch wirklich tun würde.
Doch das nahm die Stute immerwieder in kauf, schließlich gab eskaum jemanden, der sie nicht für verrückt oder dumm hielt. Halluzination wies andere oft ab, dazu kam, dass sie manchmal scheinbar grundlos Panikattacken bekam oder vollkommen ausflippte. Gefühlsausbrüche und - schwankungen gehörten zum Alttag der jungen Schimmelin.
Dennoch nahm sie es den falschen Bildern nicht üblich, schließlich waren sie Fluch und Segen zugleich. Wie sonst könnte sie jeglichen Schmerz betäuben und einfach abschalten?

Weit entfernt vernahm die Schimmelin ein leises Wiehern, jedenfalls kam es ihr so vor. Sie seufzte leise, öffnete die Augen und erhob sich langsam. Sie wusste, dass nun drie Pferde hinter ihr standen, sie womöglich anstarrten, auf eine Reaktion oder Antwort warteten. Als stünde sie noch immer in Trance, machte sie einen kleinen Schritt nach vorn, setzte auch das zweite Vorderbein neben das erste, obwohl sie merkte, dass sie sich direkt am Abgrund befand. Für einen kurzen Moment rutschte Hallu das Geröll hinab, fing sich jedoch auf und nahm ihre Vorhand zurück. Warum sie das getan hatte?
Diese saftig grüne Oase, auf der anderen Seite der tiefen Schlucht, sie war ihr zu verlockend vorgekommen... Als die Schimmelstute erwachte, brauchte sie sich nicht zu vergewissern, um zu erkennen, dass auch dieses Paradies nur ein Traum gewesen war. Wie in Zeitlupe drehte sie sich zu den anderen Pferden um, ihr starrer, lebloser Blick musterte teilnahmslos ihre Gesichter.

Halluzination musterte den Schimmelhengst starr, während er sprach. Es schien, als würde sie auf seine Lippen fixiert sein, um zu verstehen, was er ihr da mitteilen wollte. Hallu war nicht taub, neinm, sie hörte sehr gut. Dennoch fielen alle ihre Sinne immerwieder diesen Illusionen zum Opfer, was sie manchmal dämlich aussehen ließ. Erst nach einer Weile wand die Stute ihren Blick wieder ab. Würde sie ihm ihren Namen nennen, wäre ihm höchstwarscheinlich klar, was in dem kranken Hirn der Schimmelin ablief. "Halluzination..", flüsterte Hallu, "Hallo.." Ihre Stimme war so kühl und monoton wie immer, ebenso ihr kalter, toter Blick. Von nahem betrachtet war ihr Anblick mehr als erschreckend, geradzu furchteinflößend.

Sie hörte beinahe den Groschen im Kopf des Hengstes fallen - so musste es ja kommen. Er wusste nun Bescheid und hielt sie für verrückt. Wie hätte es auch anders kommen können? "Schön? Ehrlich ist er, allemal." Auch seine Frage hatte sie bereits erwartet, dennoch musste sie imaginär grinsen, als er sie so betreten und verlegen anblickte. "Warum wohl..", seufzte die Stute, senkte zum ersten Mal den Blick. Eine ihrer stärken war es, so lange reglos zu verharren, dass es die anderen beinahe in den Wahnsinn trieb. Was sich wohl in diesen Momenten im Kopf der jungen Stute abspielte..?

Die stute seufzte leise, glücklicherweise hatte sie ihre Augen rechtzeitig verdecken können, bevor die beiden Hengste die ganze zerrissene pracht ihrer leblosen Augen hätten sehen können. "Eine realitatslose Oase..", flüsterte sie. Andere Stuten hätte es bedrängt, wenn sie nur einen halben Meter vor einer hunderte an Metern tiefe Schlucht standen, vorne von zwei Hengten begrenzt, doch Halluzinationstörte es nicht. Sie hatte sich schon so oft in Lebensgefahr begeben, da spielte das nun wirklich keine Rolle mehr. Ohne aufzublicken schenkte sie dem zweiten Schimmel einen Teil ihrer verzerrten Aufmerksamkeit. "Halluzination..", flüsterte sie, zum widerholten Male.

"Mir kann niemand helfen,.", entgegnete die Stute und hob den Blick, ihre Augen noch immer verdeckt, um ihnen keine Angst einzujagen. "Das klingt sehr.. pessimistisch, doch es ist die Wahrheit, die ich nicht verleugnen kann..." Die Stute ging zwischen den beiden Hengst hindurch, drehte sich wieder um. "Ein Wald..? Das klingt sehr schön.. Und ich würde mich freuen, wenn auch San mitkommt."

"Hatte ich niemals vor..", konterte Hallu kühl. "Bleiben dann wohlnoch wir beide übrig..", flüsterte sie und seufzte. "Ich habe hier in der Nähe ein kleines Wäldchen entdeckt.. Ich bin erschöpft und müde, ich denke, für heute Nacht wird es reichen..", schlug sie gefühlslos vor und hob ihren Kopf wieder. "Entschuldige, dass ich dir nicht ins Gesicht schauenkann.. Würdest du meine Augen sehen.. Ich glaube kaum, dass du dann noch hier stehen bleiben wollen würdest.."

Halluzination seufzte leise. "Das ist der Grund, warum ich sooft alleine bin..", seufzte die Stute leise. "Keiner weiß wie es ist, Dinge zu sehen, die anderen erspart bleiben.. Es ist quasi meine Lebensversicherung, aber unheimlich behindernd, wenn die restliche Wahrnehmung dadurch eingeschränkt ist..", erklärte sie kühl und setzte sich in Bewegung.

Immer wieder fuhr Hallu zusammen, denn besonders nachts und abends jagten sie Illusionen wie eine hungrige Raubtiermeute ein schwaches Zebra. Bestimmt spürte San ihre Verspannungen, beinahe schon heftigen verkrampfungen. "Das hättest du nicht verdient, San. Stelle dir vor, in die Augen eines Verrückten zu blicken. Leblose Augen, ohne jeglichen Glanz, die Narben tragen, von Kämpfen und Selbstmordversuchen. San, das willst du nicht...", erklärte sie monoton.